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Geschichte des ostpreußischen Holzhandels

Der Holzhandel Norddeutschlands
von Julius Marchet (1858 - 1935) Forstwirt und Beamter. Professor an der Hochschule für Bodenkultur in Wien. Verlag Deuticke, 1908

Der Holzhandel auf dem Memelstrome.
Das gesamte, am Memelstrome oder Niemen kommende Holz überschreitet die deutsch-russische Grenze bei Schmalleningken (siehe Karte). In der Binnenschifffahrtsstatistik * wird dieser Verkehr im Jahre 1906 wie folgt angegeben:
Holzhandel und Holzindustrie der Ostseeländer

A. Floßverkehr:
Durchgegangen zu Tal . . . 918.507 Tonnen.

B. Gesamter Holzverkehr nach Sortimenten:
Harte Stämme...........11.527 Tonnen
Harte Schnittware............5.486 Tonnen
Hartes Brennholz................856 Tonnen
Weiche Stämme ..........929.477 Tonnen
Weiche Schnittware.....178.769 Tonnen
Weiches Brennholz........22.852 Tonnen

Der Knotenpunkt des ganzen Holzhandels ist Tilsit. Hier kommt so ziemlich das gesamte aus Russland am Niemen importierte Holz zusammen, und verteilt sich von hier aus auf die Handelsplätze von Elbing bis Memel. Es soll sofort darauf aufmerksam gemacht werden, daß die alten Fehler des ostdeutschen Holzhandels in der Benennung der Hölzer auch heute noch bestehen. Man bezeichnet Weißkiefer als Fichte und die Fichte als Tanne. Selbst in den offiziellen Publikationen wird noch immer an diesen unrichtigen Benennungen festgehalten und sollte dies wohl endlich beseitigt werden. Allmählich bricht sich zunächst die richtige Bezeichnung wenigstens für die Kiefer Bahn.

Nach kaufmännischer Schätzung betrug die im Jahre 1906 auf dem Memelstrome angekommene Masse 5144 Flöße mit etwa 2,1 Millionen Kubikmeter russischem und 30.000 — 35.000 Kubikmeter inländischem Holz. Das russische Holz verteilte sich ungefähr wie folgt:

Königsberg...............................648.032 m3
Elbing.........................................11.699 m3
Memel, Euß und Heydekrug....924.312 m3
Danzig.............................................700 m3
Tilsit.........................................380.237 m3
Tilsit Umgebung......................115.623 m3
Zusammen............................2,080.513 m3

Nach den Angaben des Holzmessamtes in Tilsit enthielt diese Masse an den einzelnen Sortimenten:

Kiefern Rundhölzer (starke u. schwache).....849.622 Festmeter
Fichten Rundhölzer (starke u. schwache).....413.832 Festmeter
Birken................................................................1.424 Festmeter
Eichen................................................................7.905 Festmeter
Erlen................................................................62.120 Festmeter
Eschen...............................................................5.711 Festmeter
Aspen...............................................................13.180 Festmeter
Linden.....................................................................34 Festmeter
Zelluloseholz (Fichte)....................................368.500 Festmeter
Grubenhölzer......................................................4.433 Festmeter
Telegraphenstangen............................................4.800 Festmeter
Kieferne Balken und Mauerlatten......................6.339 Festmeter
Kieferne Sleepers...........................................196.183 Festmeter
Kieferne Schwellen........................................115.148 Festmeter
Kieferne Kleinbahnschwellen............................7.128 Festmeter
Eichene Schwellen...........................................10.501 Festmeter
Eichene Rundschwellen........................................275 Festmeter
Eichene Stäbe...................................................13.378 Festmeter
Zusammen...................................................2,080.513 Festmeter

In der offiziellen Binnenschiffahrtsstatistik finden sich über den Holzverkehr am Tilsiter Hafenplatz im Jahre 1906 folgende Angaben:

A. Floßverkehr:
Durchgegangen zu Tal........903.615 Tonnen
Angekommen zu Tal...........333.939 Tonnen

B. Gesamter Holzverkehr nach Sortimenten:

Durchgegangen zu Tal:
Harte Stämme.......................45.176 Tonnen
Harte Schnittware.....................-...... Tonnen
Weiche Stämme..................981.029 Tonnen
Weiche Schnittware..............34.134 Tonnen
Weiches Brennholz...............17.834 Tonnen

Angekommen zu Tal:
Harte Stämme.................26.442 Tonnen
Weiche Stämme............363.709 Tonnen
Weiche Schnittware..........7.945 Tonnen
Weiches Brennholz.........13.685 Tonnen

Nachdem der ganze Memelhandel in Tilsit konzentriert ist, wurde von der Kaufmannschaft dort ein Messamt mit beeidetem Personal eingerichtet, welches nach einer Instruktion und gegen festgesetzte Gebühren (etwa 5 Pfennig pro Stamm) die Maße vornimmt. Die Abmesskosten tragen die Käufer und Verkäufer gewöhnlich zur Hälfte. Die Länge wird mit dem Stahlband gemessen, die Stärke mit der Kluppe -und zwar auf volle Zentimeter abgerundet- ermittelt. Bei Laubhölzem (Eiche, Esche, Ulme) wird auch nach rheinischem Maß gemessen und auf ½ Zoll abgerundet. Ein Messen mit dem Kettenmaß unter Wasser, wie es in Danzig und Oderberg-Bralitz in Gebrauch steht, findet nur ausnahmsweise statt, obwohl es die russischen Händler vorziehen würden. Dieses Maß ist für den Käufer ungünstig und unsicher, weil sich die Kette sehr leicht verhakt, so daß man den Verlust auf etwa 9 %, bei unregelmäßigem Holze sogar auf 12 % der Masse zu Ungunsten des Käufers schätzt.

Alles Holz wird schwimmend gemessen, da sich der Kauf ganz im Wasser abspielt. Selbstverständlich wird aber ein Teil des Holzes nicht erst hier, sondern schon im Winter in Russland gekauft. Technische Fehler werden soweit sie im Wasser bemerkbar sind beim Abmessen berücksichtigt; sollte sich erst später bei der Verwendung am Lande finden, daß z. B. faules Holz geliefert worden ist, dann werden entsprechende Abzüge gemacht, da vertragsmäßig nur gesundes Holz geliefert werden darf. Bei Fichte geht dies oft auf 4-50%, bei Kiefer auf 3-5% der Faktura. Das Messbuch wird vom Bureau des Messamtes auf Grund der Aufnahme der beeideten Vermesser ausgefertigt und danach erfolgt der Verkauf, respektive die Abrechnung.

Selbstverständlich kann das Holz auch gleich direkt an den Bestimmungsort verflößt werden. Der Kauf erfolgt aber in Russland zumeist franko Grenze und zwar wird nur jene Masse gezahlt, welche in Tilsit, Lappienen, Ruß oder in Schmalleningken gemessen wurde. Dadurch wird die ganze Gefahr der Flößerei in der russischen Strecke auf die russischen Händler überwälzt, ein Umstand, der für die Entwicklung dieses Handels außerordentlich wichtig ist.

Für Holz, welches unverkauft nach Tilsit kommt, bestehen Transitlager. Für das Transitzollkonto muss beim Passieren der Grenze in Staatspapieren oder guten Wechseln Sicherheit gestellt werden; die Regulierung der Verzollung erfolgt halbjährig. Eine schwimmende Aufbewahrung des Holzes im Hafen, so wie sie anderen Ortes üblich, ist in Tilsit leider nicht möglich, weil die Memel außerordentlich hohe Inundationswässer hat und in kürzester Zeit alles versandet sein würde. Nur die große Tilsiter Zellulosefabrik und eine Säge haben solche Häfen, aber es zeigt sich, daß diese Plätze nur sehr schwer zu halten sind. Wegen der geringen Wassertiefe können größere Seeschiffe nicht bis Tilsit kommen, sondern nur ganz kleine Segler und größere flachgehende Binnenfahrzeuge.

Das nach Königsberg bestimmte Holz geht den Memelstrom abwärts in die Gilge, passiert den Großen Friedrichgraben, gelangt bei Labiau in die Deime und von da durch den Pregel nach Königsberg (siehe Karte). Die Dimensionen der Flöße sind strompolizeilich auf 105 m Länge und 20 m Breite festgesetzt. Beim Passieren durch die schmale Deime müssen diese Flöße nach der Mitte geteilt werden.

Das Holz, welches von Tilsit nach Memel geflößt wird, ging früher den Memelfluss abwärts über das Kurische Haff. Die Flöße wurden in einer Länge von 12 Tafeln in zwei Lagen übereinander gelegt und auf jeder Doppeltafel wurde ein Mast mit einem großen Segel aufgestellt. So segelte das Floß mit 12 Segeln über das Haff bis nach Memel. Je nach dem Winde dauerte die Reise oft sehr lange, oft nur einen Tag, war aber besonders wegen der plötzlich eintretenden Stürme und des heftigen Wellenganges im Haff für Schifffahrt und Flößerei gefährlich. Insbesonders die sogenannte Windenburger Ecke war gefürchtet. War ein Floß zerschlagen und nach dem breiten Haff getrieben worden, so war es so gut wie verloren.

Deshalb wurde im Jahre 1870 mit den französischen Gefangenen anschließend an die Minge der König Wilhelm-Kanal (in der Karte mit K. W. K. bezeichnet) gebaut. Das Haff ist jetzt nur mehr auf eine sehr kurze Strecke und an einer schmalen Stelle zu passieren und also nicht mehr gefährlich. Im Kanal und Haff wurde früher durch Menschen, Pferde und Ochsen gezogen, jetzt stehen ausschließlich Dampfer in Verwendung, und zwar schon von Ruß ab bis Memel. Die Flöße werden auch nicht mehr übereinander aufgezogen, sondern müssen vielmehr wegen der geringeren Breite des Kanals und der Schleusen auch hier nach der Länge gespalten werden.

Die Transportkosten für die Flößerei stellen sich für einen Festkubikmeter: Von der Grenze bis Tilsit auf 60 Pf., von Tilsit bis Königsberg auf 1 M., von Tilsit nach Memel auf 50 Pf.

Nachdem der ostdeutsche Handel auf den Bezug des russischen Holzes angewiesen ist, werden selbstverständlich große Anstrengungen gemacht, um die Wasserstraße in Deutschland zu verbessern, anderseits verfolgt man mit Aufmerksamkeit das russische Projekt, den Holzabsatz von den deutschen Abnehmern unabhängig zu machen durch die Herstellung „einer Binnenwasserstraße, welche vom Niemen die Dubissa aufwärts und durch einen Kanal in die Wenta, den Windaustrom und in den Hafenort Windau führen soll."

Von inländischen Projekten sind zu erwähnen: die Verbesserung der Schifffahrt auf dem oberen Pregel, die Herstellung eines schiffbaren Kanals zwischen den Masurschen Seen, die Herstellung von Wasserlagerplätzen in Königsberg selbst und verschiedene andere. Von diesen Projekten ist der Masursche Kanal bereits durch eine Gesetzvorlage sichergestellt.

Was den Windauer Kanal anbelangt, so sind im April 1905 die Vorarbeiten für diesen Kanal tatsächlich in Angriff genommen worden. Für dieselben wurden 2 Millionen Rubel bewilligt und werden für die Erbauung des Kanals selbst 20 Millionen Rubel in Aussicht genommen. Das Für und Wider zu diesem Kanal lässt sich kurz im folgenden zusammenfassen: Infolge des hohen Zolles auf Schnittware wird das Holz hauptsächlich in unaufgearbeitetem Zustande nach Deutschland ausgeführt und haben außerdem die deutschen Werke in Memel, Danzig und Königsberg den Vorteil, daß ihnen der Zoll für das bezogene Rohholz ruckerstattet wird, wenn sie das erzeugte Material nach Holland, England u. s. w. exportieren. Die deutschen Händler und Industriellen können daher nach Ansicht der russischen Anhänger des Kanalprojektes den Preis des russischen Holzes nach Belieben drücken. Letztere erklären daher, es sei geboten, durch die Herstellung des Windauer Kanals die Verarbeitung des Holzes auf russischen Sägemühlen in Windau und Kowno zu ermöglichen und dadurch den Export des Holzes in verarbeitetem Zustande einzuleiten.

Dagegen wird eingewendet, daß infolge des hohen deutschen Schutzzolles auf Schnittware dieselbe in Deutschland teurer ist als selbst in England. Die in Deutschland erzeugte Schnittware bleibt daher fast ausschließlich im Lande und das durchgehende Rundholz zahlt selbstverständlich keinesfalls einen Zoll. Eine schädigende Konkurrenz der deutschen Schnitt Warenproduktion auf den anderen Märkten (England oder Frankreich) besteht daher nur in geringem Maße.

Der Holzpreis ist tatsächlich in Riga niedriger als in Memel und Königsberg und auch im Dünagebiet niedriger als im Niemengebiet, trotz der günstigeren Bedingungen für die Ausfuhr, resp. die Flößerei auf der Düna. Wenn die erst zu gründenden Windauer Werke so wie die Memeler Werke nach England ausführen wollten und daher mit dem niedrigeren englischen Schnittwarenpreise rechnen müßten, so könnten sie selbstverständlich auch nur niedrigere Preise bezahlen als die deutschen Werke. Die neuen Werke in Kowno, Windau und Libau werden übrigens nach Herstellung des Kanals — so wie jetzt schon bestehenden — wegen der höheren Preise der Schnittware den deutschen Markt aufsuchen, haben aber dann mit dem hohen Einfuhrzoll auf Schnittware zu kämpfen. Endlich wird von den russischen Urproduzenten überhaupt bezweifelt, daß sich russische Unternehmer finden werden, welche genug Intelligenz und Kapital haben, um konkurrenzfähige Sägewerke anzulegen und zu betreiben. Deshalb behaupten sie, daß der jetzige natürliche Weg über den Niemen für die Rohproduktion der beste sei, und daß es den Bedürfnissen des Landes entsprechender wäre, wenn das für den Bau des Kanals ausgeworfene Geld für die Erbauung von Straßen und Zufuhrwegen zu den Bahnen und für die Regulierung des Niemennetzes verwendet werden würde.

Man glaubt in Königsberg und Memel überhaupt gar nicht daran, daß dieser Bau jemals ernstlich in Angriff genommen werden wird.

*  Die Daten über BinnenwasserstraßenVerkehr sind der offiziellen Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 184, entnommen.
Siehe auch: G. Marchet und W. F. Exner, Holzhandel und Holzindustrie der Ostseeländer. Voigt, Weimar 1876.

Tilsiter Holzhandel und Flößerei auf der Memel

Ostpreußens Handel, Wirtschaft und Verkehr nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Aufschwung. Günstige Verträge und freundschaftliche Verbindungen mit dem damaligen Rußland waren die Basis auch für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung des ostpreußischen Binnenhandels als Vermittler zwischen Westund Osteuropa. Für den Handel und das allgemeine Verhältnis zum russischen Reich gab es, abgesehen von den beiden Weltkriegen, lange Epochen gedeihlicher Zusammenarbeit, die bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges einen hohen Grad von Stabilität bewies. In den tausend Jahren gemeinsamer Geschichte fühlten sich Menschen aus beiden Völkern intensiv zueinander hingezogen oder zum Land des anderen. Neben sachlichen Kontakten bestand immer der Wunsch, Wesen und Geist des anderen zu erfassen und den Menschen zu erleben. Es wurden nicht nur Handelswaren, sondern darüber hinaus Leistungen in der Wissenschaft, Musik, Literatur und den bildenden Künsten ausgetauscht.

Vor dem 1. Weltkrieg zählten der Holzhandel und die Holzindustrie in Ostpreußen bei den nur wenig vorhandenen mittleren und größeren Industrieanlagen zu den wichtigsten Zweigen der Volkswirtschaft und des wirtschaftlichen Verkehrs mit dem Inund Ausland. Die frühere Industriearmut Ostpreußens war nicht allein auf einen Rohstoffmangel oder auf etwaige zwingende Industriestandortgründe zurückzuführen, sondern hatte damals andere Ursachen. Wenn man überhaupt von größeren Industrieansammlungen in den führenden Städten Ostpreußens wie z.B. Königsberg, Tilsit, Elbing, Insterburg, Memel sprechen kann, so ist die frühere Industriearmut darin zu sehen, daß es privatwirtschaftlich am rentabelsten war, in einem bereits bestehenden Industriegebiet vorhandene Betriebe zu erweitern und zu modernisieren. Man konnte in solchen gelagerten Fällen ohne große Kosten die notwendigen geschulten Arbeitskräfte aus den am Ort vorhandenen Anlagen entnehmen und die Lücken durch ungelernte ausbildungsfähige Arbeitskräfte aus den angrenzenden großen Agrargebieten füllen. Andererseits war es auch schwieriger und mindestens im Anfang erheblich kostspieliger, in einem reinen Agrargebiet neue Industrieanlagen und ähnliche Unternehmen zu gründen, da gerade in überwiegend landwirtschaftlichen Gebieten geeignete Unternehmerschaft und entsprechendes Kapital nicht vorhanden war. Hätte allerdings der damalige Deutsche Staat vor dem 1. Weltkrieg mit größeren finanziellen Mitteln Neugründungen von Industrien im ostpreußischen Raum planmäßig unterstützt, so wären die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse stabiler und durch eine breitere Industriebasis in Krisenzeiten sicherer geworden.
Wenn man den Handel und die Wirtschaft von Tilsit der vergangenen Jahrhunderte beurteilt, so dürfte für die überaus günstige wirtschaftliche Entwicklung dieser im Nordosten Ostpreußens gelegenen blühenden Stadt, dem Memelstrom eine besondere Bedeutung beizumessen sein. Die Vorfahren, Ordensritter, Kaufleute und Handwerker, die vor Jahrhunderten durch Siedlungen im Schutz der Ordensburgen am Eintritt der Tilszele in die Memel den Grundstein für die Stadt legten, hatten Tatkraft, Weitblick und Gespür für die günstige Lage und wirtschaftliche Entwicklung dieses Gemeinwesens bewiesen, wie es die Zukunft zeigte. Der stetig wachsende Ort war bereits in den Anfängen ein bedeutendes Zentrum für die Verteilung von Waren und Produkten im weiten Raum der Memel, der von der Ostsee bis zu den Pripjetsümpfen (Weißrußland), von der Düna (Lettland) im Norden bis zum Baltischen Höhenzug im Süden reichte. Der Memelstrom war die Lebensader dieses angrenzenden großen Gebietes, die Stadt Tilsit das Herz.



Die Holzflöße auf der Memel haben ihr Ziel erreicht. Mit Pferdegespannen werden die einzelnen Stämme den Holzverarbeitungsbetrieben zugeführt.


Nicht nur für die Holzverarbeitungsbetriebe sind die Holzflöße interessant sondern auch für die Tilsiter Badenixen, die wie auf diesem Foto vom Badestrand in Übermemel aus die Flöße besteigen. Auf der gegenüberliegenden Seite das TiIsiter Memelufer zwischen Schloßberg und Engelsberg.

Schon im 15. Jahrhundert war der Memelstrom für den Verkehr von Mittelnach Osteuropa eine stark befahrene Handelsstraße. Auf dem russ.-lit. Gebiet wurde 1408 die Stadt Kowno (Kaunas) am Memelstrom (Njemen) gegründet, deren ursprünglicher deutscher Charakter im Laufe der Zeiten verlorenging. Für den Tilsiter Holzhandel und die damit verbundenen Wirtschaftszweige war es von großer Bedeutung, daß um die Mitte des 15. Jahrhunderts ein Handelskontor von der Deutschen Hanse unter Beteiligung Danziger Kaufleute in Kowno errichtet wurde. Die Hanse, dieser Schutzbund deutscher See- und Handelsstädte, war damals im Bereich des Ostseeraumes eine nicht zu übersehende wirtschaftspolitische Macht. Mit den Kaufleuten und Seefahrern kamen nicht nur Handelswaren und Kulturgüter zum Austausch infolge der internationalen Handelsbeziehungen, sondern auch politische Ideen und Erfahrungen. Die deutschen Kaufleute der Hanse, durchweg Bürger Freier Reichsstädte, waren weit herumgekommen und hatten durch den Gedankenaustausch mit Weggenossen und Geschäftsfreunden anderer Länder einen großen Erfahrungsschatz, nicht nur im kaufmännischen Bereich. So hatte nicht nur die Alltagspraxis im Rathaus, Hafen und Speicher ihr Weltbild geprägt. Bis zum 16. Jahrhundert war das in Kowno errichtete Handelskontor der Hanse ein bestimmender Faktor des preußisch-russischen Handels im unteren Memelgebiet.

Tilsit war als Binnenhafen am Strom vor dem 1. Weltkrieg ein zentraler und damit wichtiger Umschlagplatz für den Handel mit den östlichen Nachbarn. Der schiffbare Strom bot die Voraussetzungen für die Niederlassungen zahlreicher industrieller Betriebe, und die Lage inmitten eines weiten, sonst fast städtelosen und dabei größtenteils dicht bevölkerten Lebensraumes verschaffte der Stadt einen sehr regen Lokalverkehr. Der glänzende wirtschaftliche Aufschwung, den Tilsit  infolge dieser Vorzüge im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm, findet seinen Ausdruck in der ständig ansteigenden Einwohnerzahl zwischen den Jahren 1820 und 1900.

Nur bis zur litauischen Stadt Kowno konnten in alten Zeiten größere Schiffe (Flußdamper) gelangen, denn danach war die Memel durch fehlende Flußregulierungen, Untiefen usw. auf der russischen Seite für den Dampferverkehr ungeeignet. Dagegen wurde die Schiffahrt in nördlicher Richtung zur Seestadt Memel durch Flußregulierungen und neue Wasserbauten laufend verbessert. Sie war durch den nach Norden fließenden, breiten und weniger verzweigten Rußstrom von Natur aus begünstigt. Der Weg über das Kurische Haff, besonders an der Windenburger Ecke, war bei stürmischem Wetter für die über Tilsit nach Memel gehenden Flöße gefährlich. Aus diesen Gründen wurde vor dem 1. Weltkrieg der König-Wilhelm-Kanal gebaut, der von Memel aus zur Minge geht. Dadurch wurde eine zweckmäßige Verbindung zur Mündung des Rußstromes unter Umgehung des Kurischen Haffes hergestellt. Nach dem 1. Weltkrieg hatte die Neugestaltung der Grenzverhältnisse den Außenhandel der Stadt Tilsit fast lahmgelegt, einen Teil der auf Holzeinfuhr eingestellten und angewiesenen holzverarbeitenden Industrie vernichtet und Gewerbe und Kleinhandel um den jenseits des Memelstromes gelegenen Teil ihres Wirtschaftsgebietes gebracht. Mit diesem wirtschaftlichen Niedergang sank auch die Bevölkerungszahl von Tilsit; eine nicht aufzuhaltende steigende Arbeitslosigkeit wirkte sich sehr negativ auf das Tilsiter Wirtschaftsleben aus.

Der Tilsiter Holzhandel
Die Stadt Tilsit war insbesondere vor dem 1. Weltkrieg der unbestrittene Mittelpunkt des außerordentlich starken deutsch-russischen Holzhandels, der sich der Memel als Beförderungsweg bediente. Die Eisenbahn schaltete nicht nur wegen der hohen Frachtgebühren, sondern auch wegen des Fehlens geeigneter Anschlüsse an das russische Eisenbahnnetz aus. Für das In- und Ausland war Tilsit ein bedeutender Holzmarkt, zu dem aus dem gesamten Reichsgebiet, aus allen Provinzen, Käufer für die angebotenen verschiedensten Holzsorten erschienen. Alles Holz, das nicht von vornherein nach Königsberg (Pr.) oder Memel verkauft wurde, verblieb in Tilsit, so daß die Stadt durch ihre Lage am ungeteilten Strom der große Stapelplatz für alle auf diesem Weg aus Rußland kommenden Hölzer war. Zur Vermessung der den Strom herabkommenden Hölzer wurde von den Vorsteherämtern der kaufmännischen Korporationen zu Königsberg (Pr.), Tilsit und Memel im Jahre 1895 ein „Holzmeßamt zu Tilsit" errichtet. Zur Organisation dieses Amtes gehörten eine Aufsichtskommission, ein vereidigter Obermesser und eine Anzahl Holzmesser. Aus der Satzung des Holzmeßamtes ist zu entnehmen, daß die Aufsichtsratsmitglieder, die Holzhändler oder Holzkommissionäre sein mußten, weder Besoldung, noch Erstattung ihrer Auslagen und Unkosten erhielten. Wenn die Holzhändler nicht schon in Rußland das Holz gekauft oder dieses an der Ablegestelle (Sammelstelle) erworben hatten, kauften sie es auf dem Tilsiter Holzmarkt. Das Holz wurde seinerzeit in riesigen Flößen nach Tilsit gebracht. Sie waren außerdem bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts gleichzeitig Transportmittel, denn auf ihrem Rücken wurden große Mengen von Getreide und andere Handelswaren z. B. Pottasche, Holzteer, Honig und anderes mehr hinabgeführt.
Ende des vorigen Jahrhunderts wurde diese zusätzliche Verwendung der Flöße eingestellt. Sie waren nur noch Selbstzweck, d. h. aus verkäuflichem Holz zusammengesetzt. Die Stämme der in russischen Waldungen gefällten Bäume wurden zu besonderen, am Memelstrom (Njemen) selbst oder an günstigen Zuflüssen, eingerichteten Ablagen oder Sammelstellen geschafft. Dieses geschah entweder auf dem Bahnoder Landwege; wenn sich die Holzgewinnungsstätte in der Nähe der Ablagen befand, dadurch, daß Pferde die Stämme zu den am Ufer des Stromes gelegenen Ablagen schleiften. Eine harte und mühevolle Arbeit. Hier wurden die im Wasser liegenden Stämme durch Kleisten (junge biegsame Baumstämmchen) und Eisendrähte zu einzelnen Tafeln zusammengesetzt. Mehrere Tafeln ergaben ein großes Floß oder, wie wir auch sagten, eine Trift. Die Flöße durften nicht genagelt werden. Nur Nägel, die auf dem Transport eingeschlagen wurden, um ein Auseinanderfallen des Floßes zu verhindern, waren gestattet. Nägel konnten auch bei der weiteren Verarbeitung der Stämme in den Sägewerken wertvolle Sägeblätter beschädigen.
Die Länge eines Floßes konnte bis auf 300 m gebracht werden, dagegen die Breite je nach Größe des Gewässers. Durch Kanäle kamen nur Flöße von 3 bis 5 m Breite. Auf den wasserreichen Hauptströmen wurden aus Gründen eines rationellen Transports oft zwei bis drei Flöße seitwärts zusammengekoppelt, so daß sie insgesamt 25 bis 30 m Breite aufwiesen. Ein Floß wurde durch vier bis fünf Meter lange Stangen (Putschinen) gesteuert, während man zum Bremsen und Ankern sich der Schricken bediente. Das sind 3 bis 4 Meter lange Holzstangen, die durch Löcher des Floßes geschoben und im Strombett des Flußes befestigt wurden. Die Flöße auf der Memel waren zur Zeit vor dem 1. Weltkrieg bis zu 125 m lang und etwa 18 m breit. Der Memelstrom war zu dieser Zeit oft mit vielen Flößen fast überfüllt, so daß die Dampfer Schwierigkeiten hatten, ungehindert hindurchzukommen. Aus einem Bericht der Kaufmannschaft zu Königsberg (Pr.) des Jahres 1914 wurden bei Schmalleningken (deutsch-litauische Grenze) folgende Anzahl Flöße registriert:

1904: 3082 Flöße-734 687 t Holz 
1905: 3373 Flöße-702 638 t Holz 
1906: 5127 Flöße-918 507 t Holz 
1907: 4449 Flöße-984 136 t Holz 
1909: 3080 Flöße-708 206 t Holz 
1910: 3037 Flöße-674 720 t Holz 
1911: 3008 Flöße-706 134 t Holz 
1912: 2954 Flöße-737 970 t Holz
1908: 2579 Flöße-554 757 t Holz 
1913: 2668 Flöße-694 104 t Holz 

Vielleicht ist es von Interesse, zu erfahren, wie die Flößer, die oft monatelang mit ihren Flößen unterwegs waren, gelebt haben. Auf den Flößen befanden sich die Strohhütten der russischen Flößer oder auch Flissaken/Dschimken genannt mit ihren einfachen, durch Windschirm geschützten Feuerstellen. In der Mitte des Floßes stand ein Holzhäuschen für den verantwortlichen Floßführer. Hier waren auch die Nahrungsmittel für die Mannschaft untergebracht. In Wasserreichen Jahren konnten die Flöße von Weißrussland (Minsk) in wenigen Monaten Tilsit erreichen. Es kam aber auch vor, daß durch widrige Wasserverhältnisse, zum Teil bedingt durch die mangelhaft regulierten russischen Flüsse, auf der Talfahrt Richtung Ostpreußen ein langes Winterlager notwendig wurde. Solche Flöße erreichten Tilsit erst nach 15 bis 16 Monaten. Vor dem 1. Weltkrieg boten die mit Schafpelz, Bastschuhen und sonderbar geformten Filzhüten ausgestatteten russischen Flößer mit ihrem eigentümlichen Treiben, ihren Trachten, ihrer Freude an ihrer Volksmusik und ihren Tänzen ein malerisches Bild; nicht nur auf den Flößen, sondern auch an dem Bestimmungsort, wo sie das Holz abzuliefern hatten. Die Flößer aus Rußland deckten nach dem Lohnempfang ihren Bedarf an Lebensmitteln und Gegenständen, die sie in den einsamen Wohnorten ihrer fernen Heimat nicht erhalten konnten, um dann den langen Rückweg anzutreten. In Tilsit wurden die aus Rußland stammenden Flöße von deutschen Flößern, den Ternern, übernommen, die damals in der Pakallnis (Ternerstraße) wohnten.
Wenn auch Tilsit der Mittelpunkt des Holzhandels war, so waren die Provinzhauptstadt Königsberg (Pr.) und die Seestadt Memel Zentren der holzverarbeitenden Industrie. In Tilsit war das Fehlen eines größeren Holzund Industriehafens für den Holzhandel sehr nachteilig. Dagegen besaß die Stadt Memel z. B. an der Haffküste, an der Schmelz, einen natürlichen Holzhafen, an dem sich geschützte Wassergärten anlegen ließen. Es bestand allerdings die Absicht, seinerzeit durch den Bau eines solchen Hafens in Tilsit, den Holzhandel noch ökonomischer zu gestalten. Man stieß jedoch dabei auf Proteste der Königsberger und Memeler Kaufmannschaften, für die Tilsit kein Umschlag-, sondern nur ein Durchgangshafen sein sollte. Diese Auffassung war insofern unrichtig, da die russischen Flöße zum größten Teil erst in Tilsit in die Hand Memeler, Königsberger oder anderer Sägewerksbesitzer übergingen. Damit lag der Schwerpunkt des Holzhandels immer in Tilsit.
Nach dem 1. Weltkrieg kamen nur noch wenige, meist aus Litauen oder aus den deutschen Oberförstereien Trappönen oder NeuLubönen stammende Flöße den ström hinab. Die aus Weißrußland oder Polen vor dem 1. Weltkrieg stammenden Flöße gelangten auf dem Memelstrom nicht mehr nach Ostpreußen/Tilsit, da durch den damaligen Wilnakonflikt (Besetzung des Wilnagebietes durch Polen im Jahre 1919) die polnisch-litauische Grenze und damit auch der aus Polen nach Litauen eintretende Memelstrom gesperrt war. Diese Differenzen wurden zwischen den beiden Ländern (Polen und Litauen) bis zum Ausbruch des letzten Krieges nicht bereinigt. Die Memel war allerdings durch das Versailler Diktat zu einem internationalen Strom erklärt worden, so daß sämtlicher Flußverkehr auf dem Memelstrom frei sein sollte. Litauen und Polen kümmerten sich jedoch nicht um diese internationale Verpflichtung, so daß der Memelstrom seit 1920 gesperrt blieb. Die Sperre zeigte für die Stadt und den Holzhandel mit seinen Nebenindustrien verheerende Wirkungen. Die Zellstoffindustrie Tilsits und Ragnits sowie die Sägewerke hatten infolge des Holzmangels aufgrund dieses polnisch-litauischen Streites sehr zu leiden. Die Stillegung der meisten Sägewerke Nordostpreußens und die Arbeitslosigkeit von vielen Zellstoffarbeitern war die Folge dieser Wirtschaftsmisere. Aus der Übersicht der Industrieund Handelskammer Tilsit wird die stark verminderte Holzeinfuhr und der damit als Folgeerscheinung verbundene stark wirtschaftliche Niedergang deutlich:
Holzeinfuhren: 
1912:   2 074 532 Festmeter
1913:   2 212 323 Festmeter
1920:   334 613 Festmeter
1924:   157 566 Festmeter
1926:   56 090 Festmeter
1930:   35 499 Festmeter
1932:   32 129 Festmeter
1933:  16 664 Festmeter

Im Zusammenhang mit den Ausführungen über den Holzhandel wäre noch die Holzindustrie zu erwähnen, die in der Tilsiter Umgebung zu Hause war. Nach dem 1. Weltkrieg waren am Memelstrom im nordostpreußischen Bereich 38 Dampfschneidemühlen, zwei ZelIstoffabriken, eine Kistenund Faßfabrik vorhanden. Außer der Zellstoffabrik hatte Tilsit zu dieser Zeit acht Sägewerke, die sich in Stolbeck und Splitter entlang des Stromes hinzogen. Auf der anderen Seite des Stromes, in Übermemel, lagen vier Sägewerke. Durch den bereits geschilderten Wirtschaftsniedergang nach dem 1. Weltkrieg arbeiteten z. B. 1934 nur noch vier Sägewerke. Für die Stadt Tilsit war die Zellstoffabrik immer der wichtigste Industriezweig. Das Werk gehörte zusammen mit der Ragniter Zellstoffabrik zum Konzern Waldhof - Mannheim. Die Maschinen und sonstigen Betriebseinrichtungen des Tilsiter und Ragniter Werkes befanden sich damals auf dem modernsten Stand der Technik. Die Zellstoffabrik lag westlich der Eisenbahnbrücke und zog sich 1 km am Strom entlang. Vor dem 2. Weltkrieg waren im Tilsiter Werk rund 2000 Betriebsangehörige in Schichtarbeit tätig. Der Holzhandel und die Holzflößerei auf dem Memelstrom ist heute vielen Menschen eine unbekannte Welt, die schon der Geschichte angehört.